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01. Mai 2020 | Der Mensch in seiner Liebesfähigkeit und der Glaube der Kirche - Ein grundlegender Diskussionsbeitrag für das Synodalforum „Leben in gelingenden Beziehungen – Liebe leben in Sexualität und Partnerschaft“

Katharina Westerhorstmann, Johannes Brantl, Herwig Gössl und Stefan Oster | Download Dokument


Autor: Katharina Westerhorstmann, Johannes Brantl, Herwig Gössl und Stefan Oster
Quelle:
Bislang unveröffentlicht

Der Mensch in seiner Liebesfähigkeit und der Glaube der Kirche

Ein grundlegender Diskussionsbeitrag für das Synodalforum „Leben in gelingenden Beziehungen – Liebe leben in Sexualität und Partnerschaft“

von Katharina Westerhorstmann, Johannes Brantl, Herwig Gössl und Stefan Oster

Mai 2020 (bislang unveröffentlicht)

Vorspann zur Entstehungsgeschichte der Eingabe

Der folgende Text „Der Mensch in seiner Liebesfähigkeit und der Glaube der Kirche“ ist in gemeinsamer Arbeit von Mitgliedern des Synodalforums IV erarbeitet worden, u.a. von Prof. Johannes Brantl, Weihbischof Herwig Gössl, Bischof Stefan Oster und Prof. Katharina Westerhorstmann. Der Text wurde im Mai 2020 zu einem frühen Stadium der Diskussion im Forum eingebracht mit dem Ziel, die geltende Sexualmoral der Kirche von ihrem biblisch-anthropologischen Grundansatz her plausibel zu machen. Im Forum besprochen wurde die Eingabe im Dezember 2020.

Aus dieser Befassung sind dann auch einige Aspekte in den vorgeschlagenen Entwurf des Grundtextes[1] eingeflossen, etwa wenn auf S. 3 gesagt wird, dass es Gläubige gibt, für die die geltende Lehre eine „hilfreiche Orientierung“ ist, „deren Annahme aus einem gelebten Glauben heraus in froh- und freimachende Beziehungen führen und gelingend gelebt werden kann“.

An einer Stelle im Entwurf des Grundtextes wird aber deutlich gemacht, dass die Mehrheit des Forums eine grundsätzliche Weichenstellung vollzogen hat. Auf S. 10 wird folgender Zugang zur Freiheit des Menschen und zur geltenden christlichen Lehre in Anlehnung an das untenstehende Papier formuliert:

„Die einen verstehen die Berufung zur christlichen Freiheit vor allem in der Begründung einer neuen Existenz, die maßgeblich aus der Vergebung der Sünden hervorgeht. Sünde besteht dann zuerst in der Entfernung von einem Leben mit Gott. Gottes vergebende Liebe in Christus führt aber in diese Gemeinschaft zurück. Im Leben mit der Kirche als dem verlässlichen Ort der Gegenwart Christi, aus persönlicher und gemeinschaftlicher Beziehung zu ihm, wächst dann die Erfahrung, sich selbst und den Nächsten neu bejahen zu können. Auch die Möglichkeit, die kirchliche Lehre annehmen zu können, folgt aus dieser erneuerten Existenz und einem Akt der Freiheit. Zur Liebe befreit und durch das Gebot zur Liebe (vgl. Joh 13,35) befähigt, ist die Nachfolge und Nachahmung Jesu unstrittig zentrale Berufung jeder*s Christ*in. Vor allem vor diesem Hintergrund muss dann die Sexuallehre der Kirche authentisch vertreten und verstanden werden.“

Der Text fährt dann aber fort: „Andere betonen stärker den Aspekt der ‚verantwortlichen Freiheit‘ im gewissenhaften Urteil jeder einzelnen Person. Das Gewissen wird angeleitet und begleitet durch das gemeinsame Suchen und Ringen mit anderen und nicht zuletzt durch die Lehren der Kirche.“

Im weiteren Verlauf des Textes wird nun deutlich, dass das Forum eine Entscheidung für diesen zweiten Zugang getroffen hat, also für die „anderen“, die den Aspekt der „verantwortlichen Freiheit“ betonen. Der gesamte vorhergehende und folgende Text ist dann von diesem Zugang bestimmt – und lässt den Zugang hinter sich, der oben beginnt mit den Worten „die einen verstehen die Berufung zur christlichen Freiheit vor allem in der Begründung einer neuen Existenz“.

Ab dem Zeitpunkt dieser Entscheidung des Forums sahen sich mitwirkende Verteidigerinnen und Verteidiger der geltenden kirchlichen Lehre kaum mehr imstande, an der Debatte um den Grundtext mitzuwirken, weil dann in nahezu jedem Satz die anthropologische Grundfrage hätte neu gestellt werden müssen (also zwischen den „einen“ und den „anderen“). Erschwerend war vom erweiterten Präsidium des Synodalen Weges die Weisung hinzugekommen, dass es sowohl im Grundtext wie auch in dem, was generell in die Synodalversammlung eingebracht werden kann, keine alternativen Minderheitenvoten mehr geben dürfe. Dies schien zu Beginn der Arbeit am Text noch möglich – und hatte sich auch konkret etwa bei den Regionalkonferenzen im September 2020 in der Darstellung von Mehrheits- und Minderheitenvoten gezeigt.

Der fortlaufende Grundtextentwurf macht nun also deutlich, dass es bei seinem vorgelegten Versuch der „Weiterentwicklung“ der kirchlichen Lehre de facto um ein anderes als das bisher weitgehend synchron und diachron geteilte christliche Menschenbild geht. Eine Bejahung dieser neuen Lehre würde nach Einschätzung der oben genannten Verfasser der Eingabe zur Folge haben, dass es konsequent auch um eine andere Lehre von der Erlösung durch Christus ginge, ebenso wie folgerichtig dann auch um eine andere Lehre von der Gnade, von der Kirche und weiteren wesentlichen Punkten. Daher stellen die oben genannten Autoren und die Autorin ihr Verständnis der Grundlage der geltenden kirchlichen Sexualmoral im eingereichten Text noch einmal in knapper Form dar.

Der Mensch in seiner Liebesfähigkeit und der Glaube der Kirche

Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat.“ (Joh 3,16)

1. Zur Liebe und Freiheit in Christus berufen

Aus Liebe geschah die Menschwerdung, aus Liebe die Erlösung, aus Liebe die Berufung jedes Einzelnen zum Leben mit Jesus, dem Christus. Er rettet uns aus Liebe zu uns Menschen und er rettet den Menschen zuerst und vor allem aus seiner Beziehungslosigkeit zu Gott. Jesus führt den Menschen zurück in die Gotteskindschaft, in die Versöhnung mit dem Vatergott und beruft ihn, seinerseits die Liebe zu leben. Die Radikalität der geforderten Liebe des Christen soll ihr Maß an der Liebe Jesu nehmen, der „sein Leben hingibt für seine Freunde“ (Joh 15,13). Der gesamte christliche Glaube gründet in der Offenbarung der Liebe Gottes zum Menschen und ermutigt, ja befähigt den Menschen wiederum, Gott und den Nächsten zu lieben. Diese Liebe nimmt im menschlichen Leben unterschiedliche Formen an. Liebe wird empfangen und verschenkt, es gibt Elternliebe, Freundesliebe, dienende Liebe und erotisch-romantische Liebe. Gemeinsam ist der Liebe, dass sie den ganzen Menschen ergreift und aus seiner Personmitte, dem Herzen, kommt, in dem Gott wohnt.

Die kirchliche Sexuallehre hat diesen Zusammenhang immer hervorgehoben und die Sexualität als Teil der guten Schöpfungsordnung gesehen. Die volle geschlechtliche Gemeinschaft findet dabei ihren geschützten Ort in der verbindlichen Entscheidung der Liebenden füreinander in der Ehe und steht unter dem göttlichen Segen im Sakrament. In der Geschichte blieb die Verkündigung dieses tiefen Zusammenhangs der Verbindung von göttlicher und menschlicher Liebe nicht frei von Einseitigkeiten, übergriffigem Voyeurismus und geistlicher Machtausübung. So wurde die innere notwendige Verbindung von Sexualität, Liebe, Ehe und Familie zugunsten einer geistigen Überhöhung und Leibfeindlichkeit zeitweilig aus dem Blick verloren. Christen sind berufen zur Liebe, und diese Liebe soll sich in der Gottesliebe, der Liebe zum Nächsten und auch in der erotischen Liebe ausdrücken, wenn in einem mutigen Schritt die Bereitschaft, eine lebenslange Verbindung einzugehen, gegeben ist.

Die besondere Freiheit des Christen besteht vor allem in einer neuen Existenz, die maßgeblich aus der „Vergebung der Sünden“ hervorgeht, wie sie das Neue Testament an vielen Stellen bezeugt (etwa Mt 26,28; Apg 5,31; 10,43; Röm 3,25; Eph 1,7; Kol 1,14). Die Kirche bekennt dies im Herzstück ihres eucharistischen Gottesdienstes: Jesus hat sein Blut als Blut des neuen Bundes vergossen – zur Vergebung der Sünden. Schon bevor der Mensch selbst liebte, wurde er geliebt. Die den Menschen rettende Antwort ist der Glaube an Christus in seiner Kirche – das heißt: Die vertrauensvolle, liebende Beziehung zu Ihm als Retter; letztlich die Übergabe des eigenen Lebens an Ihn.

Die Anerkennung und Annahme der kirchlichen Lehre zur Sexualität und den menschlichen Beziehungsformen folgt dem Bekenntnis des Einzelnen zu Jesus Christus als dem von Gott gesandten Retter. Nur vor diesem Hintergrund kann eine Sexuallehre (in) der Kirche in unserer Zeit authentisch vertreten und verstanden werden. Zur Liebe befreit und durch das Gebot zur Liebe (vgl. Joh 13,35) befähigt, ist die Nachfolge und Nachahmung Jesu zentrale Berufung jedes Christen, jeder Christin. Menschliche Beziehungsfähigkeit, die in der Reife der Persönlichkeit, im Charakter und guten Willen wächst, kann durch die empfangene Liebe Gottes und die geschenkte Liebe zum Nächsten, zum Freund und zum/zur Geliebten ein Abbild göttlicher Liebe werden. Die Freiheit und das Glück, nach dem sich Menschen sehnen, liegt nach dem christlichen Glauben nicht in der Überwindung göttlicher Gebote als seien sie eine von außen auferlegte Behinderung des echten Lebens. Die Verwirklichung menschlicher Freiheit und das Erlangen des Glücks gehören nach christlichem Verständnis mit der treuen Achtung der Gebote Gottes und der ihnen verpflichteten kirchlichen Überlieferung zusammen. Gottes Gebote wollen schließlich uns Menschen nicht verarmen, sondern uns vielmehr bereichern durch mehr personale Freiheit und tiefere Erfüllung des Menschseins.

2. Die Freiheit zur Liebe und ihre Gefährdung durch die Sünde

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ (Gal 5,1) Welche Freiheit ist hier gemeint und was bedeutet dies für das Verständnis von Sünde? Der Mensch erfährt sich selbst als ambivalent. Die eigenen Wünsche, Träume und Bedürfnisse stehen nicht immer im Dienst personaler Freiheit – der eigenen wie der des anderen. Zwar ist jeder Mensch als Kind Gottes zur Liebe in ihrer bereichernden Vielfalt fähig, zugleich aber leben wir Menschen nicht als vollkommene Wesen in einem Paradies; schmerzlich geht uns immer wieder auf, dass wir schwach, beschränkt und wie zerrissen sind. Diese Selbstverhaftung und Ichzentriertheit des Menschen, Folge und Zeichen seiner inneren Entfernung von Gott, erlebt der Mensch nicht selten auch selbst ganz unmittelbar und schmerzlich als einen Mangel an jener Liebesfähigkeit, wie sie Gott unendlich zu eigen ist.  Dabei geht ihm auf, dass er selbst der Zuwendung, des Trostes und Heils bedarf, welche er sich selbst nicht geben und die er auch in einer zwischenmenschlichen Beziehung letztlich nicht vollständig finden kann. Die frohe Botschaft des Neuen Testaments ist: Christus, der Retter ist da – für jeden, auch für jeden von uns. Es gibt Heil, es gibt Versöhnung mit Gott – durch ihn und letztlich nur durch ihn.

Dies eröffnet im Grunde erst die Perspektive auf eine neue Qualität von zwischenmenschlichen Beziehungen. Der Glaube der Kirche ist nach dem biblischen Zeugnis immer der Überzeugung gewesen, dass die gläubige Begegnung mit Christus in seiner Kirche den Menschen nach und nach befähigt, anders zu lieben; d.h. ganzheitlicher, integrierter, heiler, weniger ichhaft, weniger begierlich. In der Nachfolge Jesu kommt es schließlich „darauf an ..., den Glauben zu haben, der in der Liebe wirksam ist.“ (Gal 5,6)

In dieser Liebesfähigkeit, die durch Christus neu geschenkt wird, wächst die Fähigkeit, das eigene emotionale Leben und triebhafte Begehren personal zu integrieren. Der Mensch, der im Glauben ausdrücklich mit Christus gehen will, kann in die Erfahrung hineinfinden, dass Gottes Liebe in ihm wirkt und darin auch den anderen beschenkt. Vor diesem Hintergrund zeigt sich dann noch einmal in aller Schärfe, dass sämtliche Beziehungen, die von Gewalt, Übergriffigkeit, Manipulation und emotionaler Ausbeutung geprägt sind, nicht in den Bereich der Liebe gehören – erst recht nicht, wenn Sexualität darin eine Rolle spielt und intime Kontakte auf verlogene und verletzende Art und Weise den Eindruck liebender Zuneigung vorgaukeln wollen.

3. Das Geschenk eines verwandelten und liebenden Herzens

Eine zentrale biblische Kategorie, die die Personmitte des Menschen meint, ist das Herz. Dieses Herz sieht die biblische Tradition als Ort des Gewissens und der Liebe; gleichwohl ist es zutiefst erneuerungsbedürftig. Dem „reinen Herzen“ ist die Schau Gottes und seiner Liebe verheißen (Mt 5,8). Umso schwerer wiegt die Tatsache, dass alles Böse im menschlichen Leben aus demselben Herzen kommt (vgl. Mt 15,19), das eigentlich zur Liebe berufen ist.

Somit wird der Mensch schon im Alten Testament ermahnt, sein Herz zu hüten mehr als alles andere (vgl. Spr 4,23), weil es das Zentrum der Person ist, in dem alle Entscheidungen über unsere Beziehungen zu Gott, zum Nächsten und auch zum Feind getroffen werden. Gerade deshalb hat derjenige, der „eine Frau nur lüstern anschaut, schon in seinem Herzen Ehebruch mit ihr begangen“ (Mt 5,28).

Das verwandelte Herz, das erfahren durfte von Gott bedingungslos zuerst geliebt zu sein, wird selbst zur Quelle der Liebe für andere. Und zwar einer Liebe, die den anderen als anderen meint – und nicht als Verlängerung meines Egos, meines Machtwillens, meines Willens zur Befriedigung oder anderer egoistischer Interessen. Eine solche Liebe ist aus Sicht des christlichen Glaubens ohne das Gnadengeschenk Christi im Grunde gar nicht möglich, denn kein anderer als Christus selbst beruft uns zur Liebe und will, dass wir lieben wie er (vgl. Joh 17,26; Joh 15,12).

An diesem, nur in wenigen Strichen skizzierten, Profil einer biblischen Anthropologie sehen wir, dass Christi Handeln an uns und unser antwortender Glaube an Ihn in die Fundamente unserer Existenz zielt – und letztlich geht es in allem um die Liebe. Thomas von Aquin nennt daher die Liebe eine „vis unitiva et concretiva“, eine Kraft, die zusammenwachsen lässt (von con-crescere), die eint und konkret macht. Es ist eine den Menschen einende, integrierende Kraft, die in der Lage ist, Denken und Wollen, Fühlen und Leiblichkeit mehr und mehr in der einenden Mitte zu verankern und aufeinander zu beziehen. Der durch diese Liebe befähigte Mensch wird reif, ganzheitlich, authentisch, geheilt und geheiligt. Seine Liebe wird im besten Sinn des Wortes „keusch“ – weil ihre Neigung zur Besitzergreifung des Anderen nachlässt und sie tiefer den Anderen als Anderen meint und ihn als Gabe von Christus her zu sehen sucht.

Wenn nun diese Voraussetzungen angemessen dargestellt sind, dann wird von hier aus deutlich und verstehbar, was die Kirche grundsätzlich über die Sexualität des Menschen lehrt und als ihren wesentlichen Charakter vor Augen stellt: Sie ist eine großartige, lebensspendende Kraft, welche die Menschen zueinander zieht, in tiefer Intimität miteinander verbindet und sie in ihrem schöpferischen, liebenden Miteinander zu Mitwirkenden an Gott lebensspendender und schöpferischer Liebe macht.

4. Nicht aus eigener menschlicher Kraft, sondern nur mit Gottes Hilfe

Zur ganzen Wahrheit gehört aber eben auch: Nach der Katastrophe des Sündenfalls ist die heile Beziehung zwischen Gott und Mensch zerbrochen, der ursprünglich gut erschaffene Mensch ist ein anderer geworden – mit der Konsequenz, dass auch die Beziehungen zwischen Mann und Frau sowie zwischen Mensch und Schöpfung nicht mehr ganz, intakt und heil sind: Macht, Begierde und Schmerz (vgl. Gen 3,16) sind jetzt ebenfalls Teil dieser gebrochenen Wirklichkeit der sexuellen Begegnung. In anderen Worten: Der Riss der Liebesunfähigkeit zieht sich fortan auch mitten durch die Fähigkeit des Menschen zur sexuellen Vereinigung. Sie ist ihrerseits gebrochen – bei jedem – und kennt fortan auch zahllose Spielarten heilloser sexueller Begegnung – auch wieder: in jedem Menschen, gleich welcher sexuellen Orientierung oder Präferenz. Keiner ist in dieser Hinsicht heil, weil keiner von uns ungebrochen in diese gebrochene Menschenwelt hineingeboren wird.

Kommt aber Christus als der Heiland neu in unsere Beziehungsfähigkeit hinein, so glaubt die Kirche, dann schenkt er auch die Kraft, gelingende Beziehung in einem ursprünglichen Sinn wieder zu leben oder leben zu lernen – allen voran in der Ehe, im sakramentalen, von Ihm mitbegründeten und erneuerten Bund zwischen Mann und Frau (vgl. Eph 5, 27–32), den er selbst auch ausdrücklich wieder auf den ursprünglichen Horizont eines heilen „Anfangs“ (vgl. Mk 10,6) bezieht. Allerdings gibt die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils in realistischer und biblisch fundierter Sicht auf das menschliche Können und Wollen zu bedenken, dass zur Verwirklichung einer solchen ehelichen Liebe eine „ungewöhnliche Tugend“ (GS 49) notwendig ist. Es bedarf dem entsprechend vielfältiger Hilfen durch eine qualifizierte Ehevorbereitung und -beratung, damit das Ringen um die gemeinsame Lebensführung, das Miteinander-Verhandeln und das Einander-Aushalten der Partner gelingen kann – gerade dann, wenn Liebe und Zuneigung zu verblassen drohen und die Gegensätze immer stärker hervortreten.

Dass die Liebe schenkt, was sie gebietet, dass Gott zu dem befähigt, was er erwartet und wozu er beruft, gehört zum Kernverständnis des Christentums. Menschen, die, aus welchem Grund auch immer, nicht heiraten können oder wollen, schenkt der Herr – so ist die Erfahrung des Glaubens der Jahrhunderte – die Kraft, auch ohne sexuelle Gemeinschaft ein glückliches und erfülltes Leben führen zu können. Ein Leben in romantischer Zweisamkeit ist für viele Ehepartner ein Weg, die Liebe Gottes zu erleben und tiefer zu verstehen. Der Sinn des Lebens ist gleichwohl zuerst die Begegnung mit Christus und das Leben mit Ihm – in der Gemeinschaft des dreifaltigen Gottes. Die christliche Glaubenserfahrung weiß auch: Das Leben mit dem Herrn führt bei aufrichtigem Bemühen und gestärkt durch die Kraft seines Geistes in jeder Lebensform – ganz gleich ob in der Ehe oder im Leben ohne Partnerschaft – zu einer Liebesfähigkeit, die immer weniger besitzergreifend und stattdessen immer lauterer, mithin keuscher, wird.

Dies ist der grundsätzliche Maßstab der Glaubens- und Sittenlehre unserer Kirche. Dass dieser Maßstab ein hoher ist und er sich nicht an herkömmlichen Vorstellungen von Liebe und sexueller Erfüllung orientiert, sondern diese weit übersteigt, sagt das Evangelium ausdrücklich an vielen Stellen: etwa in der Forderung, die Feinde zu lieben (Lk 6,27); in der Forderung zu grenzen- und maßloser Vergebungsbereitschaft (Mt 18,22); in der Forderung, ihn, Jesus, mehr zu lieben als die eigenen Eltern oder die eigenen Kinder (Mt 10,37); oder in der Darstellung der Liebe nach Paulus, die nicht ihren Vorteil sucht, sich nicht aufbläht, alles erträgt, allem standhält und das Böse nicht nachträgt (vgl. 1 Kor 13).

5. Barmherzigkeit und Liebe: Christsein als Weg

Vollendung im Bereich des Sittlichen wird es für den Christen, die Christin in dieser Lebenszeit nicht geben, auch wenn Jesus als Orientierungsgröße gerade im Blick auf die Liebe „Vollkommenheit“ vor Augen stellt (Mt 5,48), was wiederum nichts anderes als das Leben ganz und allein aus seiner Liebe bedeutet. Der Weg im Gehen mit Christus und der Weg im Ringen um die je eigene Integration bleibt in diesem Leben ein Prozess, eine Geschichte, in der der Mensch in dieser Welt nie gänzlich heil wird und immer wieder angewiesen bleibt auf Gottes Großzügigkeit im Vergeben. Eine Möglichkeit zur Umkehr des Verirrten in die neuerliche Weggemeinschaft mit Gott und ein neuer Anfang mit Christus an der Seite wird jedem geschenkt, der dafür offen ist – unabhängig davon, in welcher Lebenssituation, Altersphase oder Beziehungsform er oder sie sich befindet.

Wir sind bleibend unterwegs und daher bleibend vor die Herausforderungen unserer eigenen Geschichte, unserer eigenen Gebrochenheit gestellt und natürlich immer auch hineingestellt in ein Zusammenleben mit den Freuden und Nöten unserer Mitmenschen und der Gesellschaft in ihrer Geschichte und Zeit insgesamt. Daher: Der Herr kennt auch unsere Schwächen auf diesem Weg, er geht ihn mit – und hat uns immer neue Barmherzigkeit zugesprochen. Deshalb muss der Blickwinkel von Kirche heute nach wie vor zwei Perspektiven auf den Lebensweg der Menschen einnehmen: Zum einen jene, die sich jeder harten und lieblosen Verurteilung enthält und stattdessen solidarisch an der Seite der Menschen mitgeht, in welcher Situation sie sich auch immer befinden, weil wir nämlich alle Sünder und auf die Barmherzigkeit Gottes angewiesen sind. Zum anderen gilt es aber auch jene andere Perspektive nicht außer Acht zu lassen, die bei allem demütigen Bewusstsein der eigenen Gebrochenheit umso mehr auf die befreiende und heilbringende Wahrheit des Glaubens vertraut und die Menschen stets neu an das Große erinnert, das Gott denen bereitet hat, die ihn lieben (vgl. 1 Kor 2,9). Nur mit diesen beiden Perspektiven kann eine echte Humanisierung von Sexualität und Beziehung zur je größeren Ehre des Schöpfers gelingen.

 

[1] https://www.synodalerweg.de/fileadmin/Synodalerweg/Dokumente_Reden_Beitraege/6.1_SV-II-Synodalforum-IV-Grundtext-Lesung1.pdf - Fassung vom 25.8.2021


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