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22. Dezember 2021 | Christliche Kultur ohne Christen

Zum letzten Mal Weihnachten mit einer christlichen Bevölkerungsmehrheit? | Download Dokument


Autor: Thomas Petersen, Institut für Demoskopie Allensbach
Quelle:
FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG

Am kommenden Wochenende werden viele Menschen christliche Weihnachtslieder singen. In manchem Haus wird die Weihnachtsgeschichte gelesen, und die meisten Kirchen werden nur deswegen nicht voll besetzt sein, weil die Vorgaben zur Bekämpfung der Corona-Pandemie dies nicht zulassen. Auch im öffentlichen Raum ist das Christentum allgegenwärtig. Dort, wo es noch erlaubt ist, können die Kinder auf den Weihnachtsmärkten prächtige Krippen besichtigen, und in den Schokoladenregalen der Lebensmittelgeschäfte finden sich kaum weniger Engel als Weihnachtsmänner. So könnte man leicht übersehen, dass das kommende Weihnachtsfest auch ein Abschiedsfest ist: Es wird voraussichtlich das letzte sein, an dem die Christen in Deutschland in der Mehrheit sind.

Es ist in den vergangenen Monaten und Jahren in der Berichterstattung viel von Skandalen in den Kirchen, vor allem der katholischen Kirche, die Rede gewesen, von Finanzskandalen und vor allem von Fällen des Kindesmissbrauchs und den Versäumnissen bei ihrer Aufklärung. Es liegt nahe, den schwindenden Rückhalt der Kirchen in der Bevölkerung auf diese Ereignisse zurückzuführen, doch das wäre viel zu kurz gegriffen. Tatsächlich lässt sich bereits seit Jahrzehnten eine Erosion des Christentums in Deutschland beobachten, die langsam, aber beharrlich fortschreitet, letztlich unberührt von aktuellen Ereignissen. Es handelt sich um eine zwar schleichende, deswegen im Alltag nicht auffällige, aber dennoch fundamentale Veränderung der Gesellschaft.

Wie sehr die Kirche für die Bürger an Bedeutung verliert, zeigt sich seit langer Zeit auch in den Bevölkerungsumfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach. Der Anteil derjenigen, die angeben, dass sie zumindest gelegentlich in die Kirche gingen, ist seit den 1960er-Jahren von rund 60 Prozent auf heute unter 30 Prozent zurückgegangen. 1995 sagten 37 Prozent der Befragten einer Allensbacher Umfrage, dass sie Mitglied der evangelischen Kirche seien, in der aktuellen Umfrage im Auftrag der Frankfurter Allgemeine Zeitung waren es noch 28 Prozent. Die Zahl der Katholiken unter den Befragten ging in der gleichen  Zeit von 36 auf 25 Prozent zurück. Diese Entwicklung hat sich eher beschleunigt als verlangsamt, und so dürfte es eher eine Frage von Monaten als von Jahren sein, bis die Zahl der Kirchenmitglieder die 50-Prozent-Schwelle unterschreitet.

Hinter dem Rückgang der Kirchenmitgliederzahlen verbirgt sich eine Erosion des christlichen Glaubens, die noch weit größere Ausmaße hat. In der Allensbacher Umfrage vom Dezember 2021 gaben 23 Prozent der befragten Katholiken an, dass sie ein gläubiges Mitglied ihrer Kirche seien und sich dieser eng verbunden fühlten. Das entspricht knapp sechs Prozent der Gesamtbevölkerung. Von den Protestanten taten dies gerade 12 Prozent – etwas mehr als drei Prozent der Bevölkerung insgesamt. Die meisten Mitglieder der beiden großen Kirchen sagten entweder, sie fühlten sich ihrer Kirche durchaus verbunden, stünden ihr in vielen Dingen aber kritisch gegenüber, oder sie fühlten sich zwar als Christ, die Kirche bedeute ihnen aber nicht viel. Immerhin fast jeder siebte Protestant meinte sogar, er wisse nicht, was er glauben solle, oder er brauchte gar keine Religion. Da ist es nicht überraschend, dass mehr als jeder dritte Befragte, der noch Mitglied einer der großen Kirchen ist, in der aktuellen Umfrage sagte, er habe schon mit dem Gedanken gespielt auszutreten. Man erkennt, dass die Zahl der Kirchaustritte nur einen Teil der Entwicklung zeigt. Auch unter den verbliebenen Kirchenmitgliedern ist der christliche Glaube nur bei wenigen tief verankert.

Wie sehr sich die religiöse Orientierung der Deutschen in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat, zeigen die Antworten auf eine Frage, bei der konkreter nachgefragt wurde, woran die Menschen glauben. Dazu wurden Karten mit verschiedenen Glaubensinhalten vorgelegt. 61 Prozent gaben bei dieser Frage an, sie glaubten, dass es eine Seele gebe. 52 Prozent meinten, dass es Wunder gibt, ebenfalls 52 Prozent gaben den Glauben zu Protokoll, dass „in der Natur alles eine Seele hat, auch Tiere und Pflanzen“ – ein Hinweis darauf, dass die Ökologiebewegung, die viele religiöse Elemente enthält, derzeit der wahrscheinlich wichtigste Wettbewerber der christlichen Kirchen ist. Weitere 52 Prozent glaubten an schicksalhafte Fügungen. Erst an fünfter Stelle in der Rangordnung, genannt von 46 Prozent und damit weniger als der Hälfte der Befragten, folgte die Angabe „Ich glaube an Gott“.

Vor allem die Kerninhalte des christlichen Glaubens werden schon seit längerer Zeit nur noch von einer Minderheit der Bevölkerung vertreten. Dass Jesus der Sohn Gottes ist, glaubten 1986 in Westdeutschland 56 Prozent, heute sind es noch 37 Prozent. Der Glaube an die Dreifaltigkeit ist in Westdeutschland in der gleichen Zeit von 39 auf 27 Prozent zurückgegangen, der an die Auferstehung der Toten von 38 auf 24 Prozent. Vage spirituelle Vorstellungen mit nur losem Bezug zum Christentum, wie etwa der Glaube an „irgendeine überirdische Macht“ oder an Engel, sind dagegen heute ähnlich weit verbreitet wie vor drei Jahrzehnten. Der Glaube an Wunder hat gegenüber 1986 sogar deutlich zugenommen, von 33 auf 52 Prozent.

Besonders dramatisch ist der Verlust des Gewichts der Kirchen in der öffentlichen Diskussion. Bereits vor zehn Jahren fragte das Allensbacher Institut, von welchen Institutionen die wichtigsten gesellschaftlichen Impulse ausgingen. Die beiden großen Kirchen landeten auf den letzten beiden von 18 Plätzen, noch hinter der Verwaltung. In der aktuellen Umfrage wurden verschiedene Aussagen über die katholische und evangelische Kirche vorgelegt mit der Bitte an die Befragten, anzugeben, welche dieser Aussagen ihrer Ansicht nach zutreffen. Die Antworten lassen im Detail sehr interessante Unterschiede erkennen, doch alles in allem ähneln sich die Urteile der Bevölkerung über die beiden Kirchen. Allerdings ist das Image der katholischen Kirche durchgängig etwas schlechter als das der evangelischen. So sagten 60 Prozent der Befragten, die katholische Kirche halte teilweise zu starr an überholten Normen fest, von der evangelischen Kirche sagten dies 48 Prozent, 56 Prozent meinten, die katholische Kirche sei „nach den ganzen Skandalen unglaubwürdig geworden“, 46 Prozent fanden, dass dies für die evangelische Kirche gelte. Umgekehrt waren 56 Prozent der Ansicht, dass die evangelische Kirche vielen Menschen Orientierung böte, 49 Prozent sprachen dies der katholischen Kirche zu.

Dass sie nach wie vor wichtig sei, sagten nur 38 Prozent der Befragten von der katholischen und 40 Prozent von der evangelischen Kirche, wobei bei dieser Aussage die Analyse nach Altersgruppen besonders aufschlussreich ist: Während immerhin noch jeweils knapp die Hälfte der 60-jährigen und älteren Befragten die Kirchen für wichtig hielten, waren es bei den unter 30-Jährigen weniger als ein Drittel. Man muss angesichts dieser Zahlen annehmen, dass das Gewicht der Kirchen in der öffentlichen Diskussion in absehbarer Zeit weiter abnehmen wird.

In einem gewissen Kontrast zu diesen Zahlen stehen die Ergebnisse von Fragen, bei denen es um die Wertschätzung der christlichen Kulturtradition ging. Vor knapp einem Jahrzehnt gab es, angeregt durch den damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff, eine intensive öffentliche Diskussion über die Frage, ob der Islam zu Deutschland gehöre. Eine sehr klare Mehrheit lehnte damals diese These ab. Daran hat sich bis heute nichts geändert. In der aktuellen Umfrage sagten 17 Prozent der Befragten, der Islam gehöre zu Deutschland, 64 Prozent widersprachen ausdrücklich. Die Zahlen sind mit denen aus dem Jahr 2012 praktisch identisch. Zum ersten Mal wurde nun aber auch gefragt, ob das Christentum zu Deutschland gehöre. 70 Prozent antworteten mit „Ja“, von den Konfessionslosen gaben immerhin noch 55 Prozent diese Antwort.

Die Frage, ob es wichtig sei, Kinder religiös zu erziehen, beantworteten im Dezember 2021 43 Prozent der Befragten mit „Ja“, exakt gleich viele wie im Oktober 1995. Und auch der Anteil derjenigen, die sagen, dass christliche Wertvorstellungen für sie persönlich wichtig seien, ist zumindest seit knapp zwei Jahrzehnten praktisch unverändert: 2004 lag er bei 46 Prozent, in der aktuellen Umfrage bei 44 Prozent.

Man bekommt den Eindruck, dass sich die Erosion des Christentums in drei Stufen vollzieht: Zuerst verlieren die Menschen den Glauben an die wesentlichen Inhalte des Christentums. Dieser Prozess ist inzwischen weit fortgeschritten, nur noch eine Minderheit bekennt sich zu den zentralen Inhalten der christlichen Lehre, und nur jeder Zehnte fühlt sich einer der christlichen Kirchen eng verbunden. Erst nach dieser inneren Abwendung folgt in einem zweiten Schritt der Kirchenaustritt. Die verbreitete Vorstellung, wonach viele tiefgläubige Menschen die Kirche aus Protest verlassen, ist falsch. Der dritte Schritt ist die Abwendung von der christlichen Kulturtradition, doch diese wird auch ohne die religiöse Fundierung zumindest eine gewisse Zeit lang weitergepflegt und wertgeschätzt.

Allerdings zeigen sich auch hier Erosionserscheinungen, was man unter anderem an den schon oben erwähnten Weihnachtsliedern erkennen kann. Eine Frage lautete: „Wenn Sie an Ihre Kindheit zurückdenken – wurden da an Heiligabend christliche Weihnachtslieder gesungen, z. B. ‚O du fröhliche‘ oder ‚Stille Nacht‘?“ 72 Prozent der Befragten antworteten mit „Ja“. Die 60-jährigen und älteren Befragten sagten dies zu 81 Prozent, die unter 30- Jährigen immerhin noch zu 59 Prozent.

Auf die Nachfrage, ob sie denn auch heute noch diese Lieder zu Weihnachten sängen, antworteten dagegen lediglich 27 Prozent mit „Ja“. Nun ist das Weihnachtsfest  für Kinder etwas anderes als für Erwachsene. Deswegen ist an dieser Stelle vor allem die Tatsache interessant, dass der Anteil derjenigen, die sagen, dass bei ihnen christliche Weihnachtslieder gesungen würden, unter den 30- bis 44-Jährigen, von denen viele kleine Kinder haben, mit 35 Prozent am größten ist. Es werden heute also höchstwahrscheinlich weniger christliche Weihnachtslieder gesungen als vor 30 Jahren, doch wenn Kinder im Haus sind, holt der eine oder andere die Liederbücher wieder hervor. So wird die christliche Tradition zumindest bis zu einem gewissen Grad auch von denen weitergetragen, die mit dem Glauben selbst nicht mehr viel anfangen können.


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