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29. Juni 2019 | Schreiben von Papst Franziskus

An das pilgernde Volk Gottes in Deutschland | Download Dokument


Autor: Papst Franziskus
Quelle:
www.vatican.va

Liebe Brüder  und Schwestern,

Die Betrachtung der Lesungen der österlichen Festzeit aus der Apostelgeschichte hat  mich bewegt, euch  diesen Brief zu  schreiben. In diesen Lesungen begegnen wir  der  allerersten apostolischen Gemeinde, die  ganz  von  dem  neuen Leben durchdrungen ist,  das  der  Heilige Geist geschenkt hat,  der  gleichzeitig alle  Umstände so gefügt hat,  dass  daraus gute Anlässe zur Verkündigung geworden sind. Die Jünger schienen damals  alles    verloren  zu   haben  und    am   ersten  Tag    der    Woche, zwischen Bitterkeit und  Traurigkeit, hörten sie  aus  dem  Munde einer Frau, dass der Herr lebe. Nichts und niemand konnte das Eindringen des Ostergeheimnisses  in  ihr   Leben  aufhalten  und   zugleich  konnten  die Jünger  nicht  begreifen,  was   ihre   Augen  geschaut  und   ihre   Hände berührt haben (vgl.  1 Joh  1,1).

Angesichts  dessen   und  mit  der  Überzeugung,  dass  der  Herr  «mit  seiner Neuheit immer   unser  Leben  und  unsere  Gemeinschaft erneuern  kann»[1], möchte  ich Euch  nahe  sein  und  Eure  Sorge  um die Zukunft der Kirche  in Deutschland teilen.  Wir  sind  uns  alle bewusst, dass  wir nicht  nur  in einer Zeit der Veränderungen leben,  sondern vielmehr in einer Zeitenwende, die neue und alte Fragen aufwirft, angesichts derer eine Auseinandersetzung berechtigt und  notwendig ist.  Die  Sachlagen und  Fragestellungen, die  ich mit  Euren   Hirten   anlässlich  des  letzten   Ad-limina-Besuches besprechen konnte, finden  sicherlich weiterhin Resonanz in  Euren  Gemeinden. Wie bei  jener   Gelegenheit,  möchte  ich  euch  meine   Unterstützung  anbieten, meine   Nähe  auf  dem  gemeinsamen  Weg  kundtun und  zur  Suche   nach einer freimütigen Antwort auf die gegenwärtige Situation ermuntern.

1.                Mit    Dankbarkeit   betrachte   ich    das    feine    Netzwerk   von Gemeinden und  Gemeinschaften, Pfarreien und  Filialgemeinden, Schulen und  Hochschulen, Krankenhäusern und  anderen Sozialeinrichtungen, die im  Laufe  der  Geschichte entstanden  sind  und  von  lebendigem Glauben Zeugnis  ablegen,  der  sie  über   mehrere  Generationen  hinweg   erhalten, gepflegt  und  belebt   hat.  Dieser   Glaube   ist  durch   Zeiten   gegangen,  die bestimmt  waren   von  Leiden,   Konfrontation  und  Trübsal, und  zeichnet sich  gleichzeitig  durch   Beständigkeit  und  Lebendigkeit  aus;  auch  heute noch  zeigt  er  sich  in vielen  Lebenszeugnissen und  in Werken der Nächstenliebe  reich  an  Frucht.   Die  katholischen  Gemeinden  in Deutschland in ihrer  Diversität und Pluralität sind  weltweit anerkannt für ihr  Mitverantwortungsbewusstsein  und  ihre  Großzügigkeit,  die  es verstanden hat, die Hand  auszustrecken und die Umsetzung von Evangelisierungsprozessen in Regionen in benachteiligten Gegenden mit fehlenden  Möglichkeiten  zu  erreichen  und  zu  begleiten.  Diese Großherzigkeit hat sich in der jüngeren Geschichte nicht  nur in Form  von ökonomischer und  materieller Hilfe  gezeigt, sondern auch  dadurch, dass sie   im   Laufe    der   Jahre    zahlreiche   Charismen   geteilt    und   Personal ausgesandt hat:  Priester, Ordensfrauen  und  Ordensmänner  sowie  Laien, die  ganz  treu  und  unermüdlich ihren  Dienst  und  ihre  Mission unter  oft sehr   schwierigen  Bedingungen  erfüllt   haben.[2]   Ihr  habt   der  Weltkirche große  heilige   Männer und  Frauen, große  Theologen und  Theologinnen sowie   geistliche  Hirten   und  Laien   geschenkt,  die  ihren   Beitrag   für  das Gelingen einer fruchtbaren Begegnung zwischen dem Evangelium und den Kulturen geleistet haben,  hin auf neue  Synthesen und  fähig,  das Beste  aus beiden  für zukünftige Generationen im gleichen Eifer der Anfänge zu erwecken.[3] Dies ermöglichte bemerkenswerte Bemühungen, pastorale Antworten auf  die  Herausforderungen  zu  finden,   die  sich  Euch  gestellt haben.

Hingewiesen sei  auch  auf  den  von  Euch  eingeschlagenen  ökumenischen Weg,  dessen   Früchte sich  anlässlich  des  Gedenkjahres „500  Jahre Reformation“    gezeigt     haben.     Dieser     Weg    ermuntert    zu    weiteren Initiativen im Gebet  sowie  zum  kulturellen Austausch und zu Werken der Nächstenliebe,  die  befähigen,  die  Vorurteile  und  Wunden  der Vergangenheit  zu   überwinden,  damit   wir   die   Freude   am   Evangelium besser feiern und bezeugen können.

2.             Heute   indes   stelle   ich   gemeinsam  mit   euch   schmerzlich  die zunehmende Erosion und  den  Verfall  des  Glaubens fest  mit  all dem,  was dies  nicht  nur  auf  geistlicher, sondern auch  auf  sozialer und  kultureller Ebene  einschließt. Diese  Situation lässt  sich  sichtbar feststellen, wie  dies bereits  Benedikt XVI.  aufgezeigt hat, nicht  nur «im Osten,  wie wir wissen, wo  ein  Großteil der  Bevölkerung nicht  getauft  ist  und  keinerlei Kontakt zur Kirche  hat und oft Christus überhaupt nicht  kennt»[4], sondern sogar  in sogenannten «traditionell katholischen Gebieten mit einem drastischen Rückgang der Besucher der Sonntagsmesse sowie beim Empfang der Sakramente»[5].  Es  ist  dies  ein  sicherlich facettenreicher und  weder   bald noch   leicht    zu   lösender   Rückgang.   Er   verlangt   ein   ernsthaftes  und bewusstes Herangehen und fordert  uns in diesem  geschichtlichen Moment wie  jenen  Bettler   heraus,   wenn  auch  wir  das  Wort  des  Apostels hören: «Silber  und Gold besitze  ich nicht.  Doch  was ich habe,  das gebe ich dir: Im Namen  Jesu Christi, des Nazoräers, geh umher!» (Apg  3,6).

3.              Um  dieser   Situation zu  begegnen,  haben   Eure  Bischöfe  einen synodalen  Weg  vorgeschlagen.  Was  dieser  konkret bedeutet und  wie  er sich  entwickelt,  wird  sicherlich  noch  tiefer  in  Betracht  gezogen  werden müssen.  Meinerseits  habe  ich  meine   Betrachtungen  zum  Thema Synodalität  anlässlich  der  Feier   des  50-jährigen  Bestehens  der Bischofssynode  dargelegt[6].  Es  handelt  sich  im  Kern  um  einen   synodos, einen gemeinsamen Weg unter der Führung des Heiligen Geistes. Das aber bedeutet, sich  gemeinsam auf den Weg  zu begeben mit der ganzen  Kirche unter dem Licht des Heiligen Geistes, unter seiner  Führung und seinem Aufrütteln, um  das  Hinhören zu  lernen  und  den  immer  neuen  Horizont zu erkennen, den  er uns  schenken möchte. Denn  die Synodalität setzt  die Einwirkung des Heiligen Geistes  voraus  und bedarf  ihrer.

Anlässlich  der  letzten   Vollversammlung  der  italienischen Bischöfe hatte ich  die  Gelegenheit, diese  für  das  Leben  der  Kirche  zentrale Wirklichkeit nochmals in Erinnerung zu rufen,  indem  ich die doppelte Perspektive, die sie  verfolgt, einbrachte: «Synodalität von  unten  nach  oben,  das  bedeutet die Pflicht,  für die Existenz und die ordnungsgemäßen Funktionsvorgänge der  Diözese, der  Räte,  der  Pfarrgemeinden, für  die  Beteiligung der  Laien Sorge zu tragen… (vgl. cann. 469-494 CIC),  angefangen bei der Diözese. So ist  es  nicht   möglich  eine   große   Synode   zu  halten,   ohne   die   Basis   in Betracht  zu  ziehen… Dann  erst  kommt   die  Synodalität  von  oben  nach unten», die es erlaubt, in spezifischer und  besonderer Weise  die kollegiale Dimension des bischöflichen Dienstes und des Kirche-Seins zu leben[7].  Nur so gelangen wir in Fragen, die für den  Glauben und  das Leben  der Kirche wesentlich sind,  zu  reifen  Entscheidungen.  Möglich sein  wird  das  unter der  Bedingung, dass  wir  uns  auf  den  Weg  machen, gerüstet mit  Geduld und   der   demütigen  und   gesunden  Überzeugung,  dass   es  uns   niemals gelingen wird,  alle Fragen  und Probleme gleichzeitig lösen  zu können. Die Kirche   ist  und  wird  immer   Pilgerin auf  dem  Weg  der  Geschichte  sein; dabei  ist  sie  Trägerin eines  Schatzes in  irdenen Gefäßen (vgl.  2 Kor  4,7). Das    ruft   uns   in   Erinnerung:   In   dieser    Welt    wird    die   Kirche    nie vollkommen sein, während ihre Lebendigkeit und ihre Schönheit in jenem Schatz  gründet, zu dessen  Hüterin sie von Anfang an bestellt   ist[8].

Die aktuellen Herausforderungen sowie  die Antworten, die wir  geben, verlangen  im  Blick  auf  die  Entwicklung  eines   gesunden  aggiorna mento «einen   langen   Reifungsprozess  und   die   Zusammenarbeit  eines   ganzen Volkes  über  Jahre  hinweg»[9]. Dies  regt  das  Entstehen und  Fortführen von Prozessen an, die uns als Volk Gottes aufbauen, statt nach unmittelbaren Ergebnissen mit  voreiligen und  medialen Folgen  zu  suchen, die  flüchtig sind wegen mangelnder Vertiefung und Reifung oder weil sie nicht der Berufung entsprechen, die uns gegeben ist.

4.               In    diesem     Sinne     kann     man     bei    aller     ernsthaften    und unvermeidlichen Reflexion leicht in subtile Versuchungen geraten, denen man, meines  Erachtens, besondere Aufmerksamkeit schenken und deshalb Vorsicht walten  lassen  sollte,  da sie uns, alles andere  als hilfreich für einen gemeinsamen  Weg,  in  vorgefassten  Schemata  und  Mechanismen festhalten,  die  in  einer   Entfremdung  oder   einer   Beschränkung  unserer Mission  enden.   Mehr   noch   kommt   als  erschwerender  Umstand  hinzu: Wenn  wir uns dieser  Versuchungen nicht bewusst sind, enden  wir leicht in einer  komplizierten Reihe  von Argumentationen, Analysen und Lösungen mit keiner anderen Wirkung, als uns von der wirklichen und täglichen Begegnung mit dem treuen  Volk und dem Herrn  fernzuhalten.

5.              Die   derzeitige   Situation   anzunehmen   und   sie   zu   ertragen, impliziert  nicht   Passivität  oder   Resignation  und  noch   weniger Fahrlässigkeit; sie ist im Gegenteil eine Einladung, sich dem zu stellen,  was in     uns     und     in    unseren    Gemeinden    abgestorben    ist,     was     der Evangelisierung und der Heimsuchung durch den Herrn bedarf. Das aber verlangt Mut, denn,  wessen  wir bedürfen, ist viel mehr  als ein struktureller, organisatorischer oder funktionaler Wandel.

Ich    erinnere   daran,    was    ich    anlässlich   der    Begegnung   mit    euren Oberhirten im Jahre  2015  sagte,  dass  nämlich eine der ersten  und größten Versuchungen im kirchlichen Bereich darin bestehe zu glauben, dass die Lösungen  der  derzeitigen  und  zukünftigen  Probleme  ausschließlich  auf dem Wege der Reform von Strukturen, Organisationen und Verwaltung zu erreichen sei,  dass  diese  aber  schlussendlich  in  keiner  Weise  die  vitalen Punkte  berühren, die eigentlich der Aufmerksamkeit bedürfen. «Es handelt sich  um  eine  Art  neuen  Pelagianismus, der  dazu  führt,  unser  Vertrauen auf  die  Verwaltung  zu  setzen,   auf  den  perfekten  Apparat.  Eine übertriebene Zentralisierung kompliziert aber  das  Leben  der  Kirche  und ihre    missionarische   Dynamik,   anstatt    ihr    zu   helfen    (vgl.    Eva ngelii ga udium, 32)»[10]0.

Die Grundlage dieser  Versuchung ist der Gedanke, die beste Antwort angesichts  der  vielen   Probleme  und  Mängel  bestehe  in  einem Reorganisieren  der   Dinge,   in   Veränderungen  und   in   einem “Zurechtflicken”,  um   so  das   kirchliche  Leben   zu  ordnen   und   glätten, indem  man  es der  derzeitigen Logik  oder  jener  einer  bestimmten Gruppe anpasst. Auf  einem  solchen Weg  scheinen alle  Schwierigkeiten gelöst  zu sein  und  scheinbar finden  die  Dinge  wieder  ihre  Bahn,  so  das  kirchliche Leben  eine  “ganz  bestimmte” neue  oder  alte Ordnung findet,  die dann  die Spannungen beendet, die unserem Mensch-Sein zu eigen  sind und die das Evangelium hervorrufen will[11].

Auf  diese  Weise  wären  Spannungen im  kirchlichen Leben  nur  scheinbar zu beseitigen. Nur  „in  Ordnung und  im  Einklang” sein  zu wollen,  würde mit  der  Zeit  lediglich das  Herz  unseres Volkes  einschläfern und  zähmen und  die lebendige Kraft  des Evangeliums, die der  Geist  schenken möchte, verringern oder  gar  zum  Schweigen bringen: «Das  aber  wäre  die  größte Sünde der Verweltlichung und verweltlichter Geisteshaltung gegen das Evangelium»[12]. So käme man vielleicht zu einem  gut strukturierten und funktionierenden, ja sogar „modernisierten“ kirchlichen Organismus; er bliebe   jedoch   ohne   Seele   und   ohne   die  Frische   des  Evangeliums.  Wir würden  lediglich  ein  „gasförmiges“,  vages   Christentum,  aber  ohne   den notwendigen „Biss“  des Evangeliums, leben[13].  «Heute  sind wir gerufen, Ungleichgewichte und  Missverhältnisse zu  bewältigen. Wir  werden  nicht in   der   Lage   sein,   irgendetwas   Gutes    zu   tun,   was   dem   Evangelium entspricht, wenn  wir  davor  Angst  haben»[14]. Wir  dürfen  nicht  vergessen, dass es Spannungen und Ungleichgewichte gibt, die den Geschmack des Evangeliums   haben,    die    beizubehalten   sind,    weil    sie    neues    Leben verheißen.

6.              Daher   erscheint  es  mir  wichtig,  das  nicht   aus  den  Augen   zu verlieren,  was  «die  Kirche   wiederholt  gelehrt   hat,  dass  wir  nicht  durch unsere  Werke  oder  unsere  Anstrengungen gerechtfertigt werden, sondern durch  die Gnade  des Herrn,  der die Initiative ergreift»[15]. Ohne  diesen  Blick der göttlichen Tugenden laufen wir Gefahr,  in den verschiedenen Erneuerungsbestrebungen das zu wiederholen, was heute die kirchliche Gemeinschaft  daran   hindert,  die  barmherzige  Liebe   Gottes   zu verkündigen. Die  Art  und  Weise  der  Annahme der  derzeitigen Situation wird  bestimmend sein für die Früchte, die sich daraus  entwickeln werden. Darum   appelliere  ich,   dass   dies   unter   dem   Blickwinkel  der  göttlichen Tugenden  geschehen  soll.   Das   Evangelium  der   Gnade   mit   der Heimsuchung des Heiligen Geistes  sei das Licht  und der Führer, damit  ihr euch diesen Herausforderungen stellen könnt. Sooft eine kirchliche Gemeinschaft   versucht   hat,    alleine    aus    ihren    Problemen herauszukommen, und  lediglich auf  die  eigenen Kräfte,  die eigenen Methoden und die eigene  Intelligenz vertraute, endete  das darin,  die Übel, die  man  überwinden wollte,  noch  zu  vermehren und  aufrechtzuerhalten. Die  Vergebung und  das  Heil  sind  nicht  etwas,  das  wir  erkaufen müssen, «oder  was  wir  durch  unsere   Werke   oder  unsere   Bemühungen erwerben müssen. Er vergibt  und befreit  uns unentgeltlich. Seine  Hingabe am Kreuz ist  etwas  so  Großes, dass  wir  es weder  bezahlen können noch  sollen,  wir können dieses  Geschenk nur  mit  größter Dankbarkeit entgegennehmen, voll   Freude,  so   geliebt   zu   werden,  noch   bevor   wir   überhaupt  daran denken»[16].

Das  gegenwärtige  Bild  der  Lage   erlaubt   uns  nicht,   den  Blick   dafür   zu verlieren,  dass  unsere   Sendung sich  nicht  an  Prognosen, Berechnungen oder  ermutigenden  oder  entmutigenden  Umfragen festmacht,  und  zwar weder  auf kirchlicher, noch auf  politischer, ökonomischer oder sozialer Ebene          und ebenso  wenig          an  erfolg-reichen  Ergebnissen  unserer Pastoralplanungen[17]. Alles   das  ist  von  Bedeutung,  auch   diese   Dinge   zu werten,                    hinzuhören,   auszuwerten      und        zu     beachten;      in     sich     jedoch erschöpft sich  darin nicht   unser                                      Gläubig-Sein. Unsere          Sendung     und unser  Daseinsgrund  wurzelt  darin,   dass  «Gott   die  Welt   so  sehr  geliebt hat,   dass   er   seinen   einzigen  Sohn   dahingab,  damit   alle,   die   an   ihn glauben,  nicht   verloren  gehen,   sondern  das   ewige   Leben   haben»  (Joh

3,16).   «Ohne   neues   Leben   und   echten,   vom   Evangelium  inspirierten Geist,  ohne  „Treue   der  Kirche   gegenüber ihrer  eigenen  Berufung“  wird jegliche neue Struktur in kurzer  Zeit verderben»[18]. Deshalb kann der bevorstehende    Wandlungsprozess   nicht   ausschließlich  reagierend  auf äußere  Fakten   und  Notwendigkeiten antworten, wie es  zum  Beispiel der starke  Rückgang der Geburtenzahl und  die  Überalterung der  Gemeinden sind,  die  nicht  erlauben, einen  normalen Generationen-wechsel ins  Auge zu  fassen.   Objektive  und  gültige   Ursachen  würden  jedoch,    werden   sie isoliert   vom   Geheimnis  der   Kirche   betrachtet,  eine    lediglich  reaktive Haltung  –  sowohl   positiv   wie  negativ   –  begünstigen  und  anregen.  Ein wahrer  Wandlungsprozess beantwortet, stellt aber zugleich auch Anforderungen, die unserem Christ-Sein und  der ureigenen Dynamik der Evangelisierung der  Kirche  entspringen; ein  solcher  Prozess verlangt eine pastorale  Bekehrung.  Wir   werden    aufgefordert,  eine   Haltung einzunehmen, die darauf  abzielt,  das Evangelium zu leben  und transparent zu machen, indem  sie mit «dem grauen  Pragmatismus des täglichen Lebens der Kirche  bricht,  in dem anscheinend alles normal  abläuft, aber in Wirklichkeit der Glaube nachlässt und ins Schäbige absinkt»[19]. Pastorale Bekehrung ruft uns in Erinnerung, dass die Evangelisierung unser Leitkriterium schlechthin sein  muss,  unter  dem  wir alle Schritte erkennen können,  die  wir  als  kirchliche  Gemeinschaft  gerufen  sind   in  Gang   zu setzen  gerufen sind;  Evangelisieren bildet  die  eigentliche und  wesentliche Sendung der  Kirche[20].

7.               Deshalb   ist    es,    wie    Eure    Bischöfe   bereits    betont    haben, notwendig, den Primat  der Evangelisierung zurückzugewinnen, um die Zukunft mit Vertrauen und  Hoffnung in den  Blick  zu nehmen, denn «die Kirche,  Trägerin der Evangelisierung, beginnt damit,  sich  selbst  zu evangelisieren. Als Gemeinschaft von Gläubigen, als Gemeinschaft gelebter und  gepredigter Hoffnung, als Gemeinschaft brüderlicher Liebe  muss  die Kirche   unablässig  selbst  vernehmen,  was  sie  glauben  muss,  welches die Gründe ihrer Hoffnung sind und was das neue Gebot  der Liebe  ist»[21].

Die so gelebte Evangelisierung ist keine Taktik kirchlicher Neupositionierung   in    der    Welt   von    heute,   oder    kein    Akt    der Eroberung, der  Dominanz oder  territorialen Erweiterung; sie ist  keine „Retusche“,  die   die   Kirche  an   den   Zeitgeist  anpasst,  sie   aber    ihre Originalität   und    ihre    prophetische   Sendung   verlieren   lässt.  Auch bedeutet Evangelisierung nicht den  Versuch, Gewohnheiten  und Praktiken zurückzugewinnen, die  in  anderen kulturellen Zusammenhängen einen Sinn  ergaben. Nein, die Evangelisierung ist ein Weg  der  Jüngerschaft in Antwort auf  die  Liebe zu Dem, der  uns  zuerst geliebt   hat    (vgl.    1   Joh    4,19);   ein    Weg    also,    der    einen   Glauben ermöglicht, der  mit  Freude gelebt, erfahren, gefeiert und  bezeugt wird. Die  Evangelisierung führt uns  dazu, die Freude am  Evangelium wiederzugewinnen,  die  Freude, Christen  zu  sein.  Es  gibt   ganz   sicher harte Momente  und   Zeiten des  Kreuzes; nichts aber  kann die übernatürliche Freude zerstören, die es versteht sich  anzupassen, sich  zu wandeln und  die  immer bleibt, wie  ein  wenn auch leichtes Aufstrahlen von   Licht, das  aus  der  persönlichen  Sicherheit hervorgeht, unendlich geliebt zu sein, über alles andere hinaus.  Die Evangelisierung bringt  innere Sicherheit    hervor,     «eine     hoffnungsfrohe    Gelassenheit,    die      eine geistliche   Zufriedenheit   schenkt,  die   für   weltliche  Maßstäbe unverständlich ist»[22].  Verstimmung, Apathie, Bitterkeit, Kritiksucht sowie Traurigkeit  sind   keine   guten   Zeichen  oder   Ratgeber;  vielmehr  gibt   es Zeiten  in denen  «die  Traurigkeit mitunter mit  Undankbarkeit zu tun  hat: Man   ist   so   in   sich   selbst   verschlossen,  dass   man   unfähig  wird,   die Geschenke Gottes  anzuerkennen»[23].

8.              Deshalb muss  unser  Hauptaugenmerk sein,  wie wir diese  Freude mitteilen: indem  wir  uns  öffnen  und  hinausgehen, um  unseren Brüdern und   Schwestern  zu  begegnen,  besonders  jenen,   die   an  den   Schwellen unserer Kirchentüren, auf den Straßen, in den Gefängnissen, in den Krankenhäusern, auf  den  Plätzen  und  in den  Städten zu finden  sind.  Der Herr drückte sich klar aus: «Sucht  aber zuerst  sein Reich  und seine Gerechtigkeit; dann wird euch alles andere dazugegeben» (Mt 6,33). Das bedeutet  hinauszugehen,  um  mit  dem  Geist  Christi   alle  Wirklichkeiten dieser  Erde  zu salben,  an ihren  vielfältigen Scheidewegen, ganz  besonders dort,  «wo  die neuen  Geschichten und Paradigmen entstehen, um mit dem Wort  Jesu  den  innersten Kern  der  Seele  der  Städte  zu  erreichen»[24]. Das bedeutet mitzuhelfen, dass das Leiden  Christi  wirklich und konkret jenes vielfältige  Leiden   und   jene   Situationen  berühren  kann,   in  denen   sein Angesicht  weiterhin  unter   Sünde   und  Ungleichheit  leidet.   Möge   dieses Leiden  den  alten  und  neuen  Formen der  Sklaverei, welche  Männer und Frauen   gleichermaßen  verletzen,  die   Maske   herunterreißen,  besonders heute,  da wir immer  neu ausländerfeindlichen Reden  gegenüberstehen, die eine Kultur  fördern, die als Grundlage die Gleichgültigkeit, die Verschlossenheit sowie  den Individualismus und die Ausweisung hat. Und es sei im Gegenzug das Leiden  Christi, das in unseren Gemeinden und Gemeinschaften,  besonders  unter   den   jüngeren  Menschen,  die Leidenschaft für sein Reich   erwecke! Das fordert  von uns, «einen  geistlichen Wohlgefallen daran zu finden,  nahe am  Leben  der  Menschen zu  sein,  bis  zu  dem  Punkt,  dass  man  entdeckt, dass  dies eine Quelle  höherer Freude  ist. Die Mission ist eine Leidenschaft für Jesus, zugleich aber eine Leidenschaft für sein  Volk»[25].

So müssten wir  uns  also  fragen,  was  der  Geist  heute  der  Kirche  sagt  (vgl. Offb  2,7),  um  die  Zeichen  der  Zeit  zu  erkennen[26],  was  nicht gleichbedeutend ist mit einem  bloßen  Anpassen an den Zeitgeist (vgl. Röm 12,2). Alle Bemühungen des Hörens, des Beratens und der Unterscheidung zielen    darauf    ab,    dass    die    Kirche    im   Verkünden   der   Freude    des Evangeliums, der Grundlage, auf der alle Fragen  Licht  und Antwort finden können, täglich  treuer,  verfügbarer, gewandter und  transparenter wird[27].

«Die  Herausforderungen existieren, um überwunden zu werden. Seien  wir realistisch,  doch   ohne   die  Heiterkeit,  den   Wagemut  und   die hoffnungsvolle  Hingabe zu  verlieren! Lassen   wir  uns  die  missionarische Kraft nicht nehmen![28]».

9.              Das Zweite  Vatikanische Konzil  war ein wichtiger Schritt  für die Heranbildung des Bewusstseins, das die Kirche  sowohl  über  sich  selbst  als auch über ihre Mission in der heutigen Welt hat. Dieser  Weg,  der vor über fünfzig  Jahren  begann, spornt  uns weiterhin zu seiner Rezeption und Weiterentwicklung  an   und   ist   jedenfalls  noch   nicht   an   seinem   Ende angelangt, insbesondere bezüglich der Synodalität, die berufen ist, sich auf den verschiedenen Ebenen des kirchlichen Lebens  zu entfalten (Pfarrei, Diözesen,  auf  nationaler Ebene,   in  der  Weltkirche sowie  in  den verschiedenen   Kongregationen   und   Gemeinschaften).   Es   ist   Aufgabe dieses  Prozesses, gerade  in diesen  Zeiten  starker  Fragmentierung und Polarisierung sicherzustellen, dass  der Sensus Ecclesia e auch  tatsächlich in jeder Entscheidung lebt, die wir treffen,  und der alle Ebenen nährt und durchdringt. Es  geht  um  das  Leben  und  das  Empfinden mit  der  Kirche und  in  der  Kirche,  das  uns  in  nicht  wenigen Situationen auch  Leiden  in der  Kirche  und  an  der  Kirche  verursachen wird.  Die  Weltkirche lebt  in und   aus   den   Teilkirchen[29],   so   wie   die   Teilkirchen   in   und   aus   der Weltkirche  leben   und   erblühen;  falls   sie  von   der   Weltkirche  getrennt wären,  würden sie sich  schwächen, verderben und  sterben. Daraus  ergibt sich die Notwendigkeit, die Gemeinschaft mit dem ganzen  Leib der Kirche immer  lebendig und wirksam zu erhalten. Das hilft uns, die Angst  zu überwinden, die uns  in uns  selbst  und  in unseren Besonderheiten isoliert, damit  wir  demjenigen in die Augen  schauen und  zuhören oder  damit  wir auf  Bedürfnisse verzichten können und  so  denjenigen zu  begleiten vermögen, der  am  Straßenrand liegen  geblieben ist. Manchmal kann  sich diese Haltung in einer minimalen Geste zeigen,  wie jene des Vaters  des Verlorenen Sohnes, der die Türen offen hält, so dass der Sohn, wenn er zurückkehrt, ohne  Schwierigkeiten  eintreten kann[30].   Das  bedeutet nicht, nicht  zu  gehen,   nicht  voranzuschreiten,  nichts  zu  ändern   und  vielleicht nicht  einmal  zu debattieren und  zu widersprechen, sondern es ist einfach die Folge  des Wissens, dass wir wesentlich Teil eines  größeren Leibes  sind, der  uns  beansprucht, der  auf  uns  wartet  und  uns  braucht, und  den  auch wir  beanspruchen, erwarten und  brauchen. Es ist die  Freude, sich als Teil des heiligen und geduldigen treuen  Volkes  Gottes  zu fühlen.

Die anstehenden Herausforderungen, die verschiedenen Themen und Fragestellungen  können  nicht   ignoriert  oder   verschleiert  werden;  man muss  sich  ihnen  stellen,  wobei  darauf  zu achten  ist,  dass  wir  uns  nicht  in ihnen  verstricken  und  den  Weitblick verlieren, der  Horizont sich  dabei begrenzt und die Wirklichkeit zerbröckelt. «Wenn  wir im Auf und Ab der Konflikte verharren, verlieren wir den Sinn für die tiefe Einheit  der Wirklichkeit»[31].  In  diesem   Sinne   schenkt uns   der  Sensus  Ecclesiae diesen weiten  Horizont der  Möglichkeit, aus  dem  heraus  versucht werden  kann, auf die dringenden Fragen  zu antworten. Der Sensus Ecclesia e erinnert uns zugleich  an  die   Schönheit  des   vielgestaltigen  Angesichts  der   Kirche[32]. Dieses   Gesicht ist  vielfältig, nicht  nur  aus  einer  räumlichen Perspektive heraus,  in ihren Völkern, Rassen  und Kulturen[33], sondern auch aus ihrer zeitlichen Wirklichkeit heraus,  die es uns erlaubt, in die Quellen der lebendigsten und vollsten Tradition einzutauchen. Ihrerseits ist diese Tradition  berufen,  das  Feuer   am  Leben   zu  erhalten,  statt   lediglich  die Asche  zu bewahren[34]. Sie erlaubt  es allen  Generationen, die erste Liebe  mit Hilfe des Heiligen Geistes  wieder  zu  entzünden.

Der  Sensus Ecclesiae befreit uns von  Eigenbrötelei und  ideologischen Tendenzen, um uns einen Geschmack dieser Gewissheit des Zweiten Vatikanischen Konzils zu  geben, als  es bekräftigte, dass  die Salbung des Heiligen (vgl. 1 Joh 2,20.  27) zur  Gesamtheit der  Gläubigen gehört[35]. Die Gemeinschaft mit  dem  heiligen und treuen Volk Gottes, dem Träger der Salbung, hält  die  Hoffnung und  die Gewissheit am Leben, dass  der Herr an unserer Seite  wandelt und  dass  er  es  ist,  der  unsere Schritte stützt. Ein    gesundes   gemeinsames   Auf-dem-Weg-Sein   muss   diese Überzeugung durchscheinen lassen in der Suche nach Mechanismen, durch die  alle  Stimmen, insbesondere die  der  Einfachen und  Kleinen, Raum und  Gehör finden. Die  Salbung des  Heiligen, die über  den  ganzen kirchlichen Leib ausgegossen wurde,  «verteilt besondere Gnaden unter  den Gläubigen  eines  jeden   Standes  und  jeder  Lebensbedingung  und  verteilt seine Ga ben an jeden na ch seinem Willen (1 Kor 12,11).  Durch  diese macht er sie geeignet und  bereit,  für die Erneuerung und  den  vollen  Aufbau der Kirche   verschiedene  Werke   und   Dienste  zu  übernehmen  gemäß   dem Wort: Jedem wird der Erweis des Geistes zum Nutzen gegeben (1 Kor 12,7)»[36]. Dies hilft uns, auf diese  alte und immer  neue Versuchung der Förderer des Gnostizismus  zu  achten,   die,  um  sich  einen  eigenen Namen   zu  machen und  den  Ruf  ihrer  Lehre  und  ihren  Ruhm   zu  mehren, versucht  haben, etwas  immer  Neues  und  Anderes zu  sagen  als  das,  was  das  Wort  Gottes ihnen   geschenkt  hat.   Es   ist   das,   was   der   heilige   Johannes  mit   dem Terminus proa gon beschreibt (2  Joh  9);  gemeint ist  damit  derjenige, der voraus   sein  will,  der  Fortgeschrittene, der  vorgibt   über   das  „kirchliche Wir“ hinauszugehen, das jedoch  vor den Exzessen bewahrt, die die Gemeinschaft  bedrohen[37].

10.               Deshalb  achtet   aufmerksam  auf   jede   Versuchung,  die  dazu führt,  das  Volk  Gottes  auf  eine  erleuchtete Gruppe reduzieren zu wollen, die  nicht  erlaubt, die  unscheinbare, zerstreute Heiligkeit zu sehen,  sich  an ihr  zu  freuen   und   dafür   zu  danken.  Diese   Heiligkeit, die  da  lebt  «im geduldigen Volk  Gottes:  in  den  Eltern,  die  ihre  Kinder  mit  so  viel  Liebe erziehen, in den Männern und  Frauen, die  arbeiten, um  das  tägliche Brot nach  Hause  zu bringen, in den  Kranken, in den  älteren  Ordensfrauen, die weiter  lächeln. In dieser  Beständigkeit eines  tagtäglichen Voranschreitens sehe  ich  die  Heiligkeit der  streitenden Kirche.   Oft  ist  das  die  Heiligkeit „von    nebenan“,   derer,    die    in   unserer   Nähe    wohnen   und    die    ein Widerschein der  Gegenwart Gottes  sind»[38].  Das  ist die  Heiligkeit, die  die Kirche   vor  jeder  ideologischen,  pseudo-wissenschaftlichen  und manipulativen Reduktion schützt  und immer  bewahrt hat. Diese  Heiligkeit regt uns an, erinnert daran und lädt ein, diesen marianischen Stil im missionarischen Wirken der Kirche zu entwickeln, die so in der Lage ist, Gerechtigkeit  mit  Barmherzigkeit,  Kontemplation  mit  Aktion   und Zärtlichkeit mit  Überzeugung auszudrücken. «Denn  jedes  Mal,  wenn  wir auf   Maria    schauen,   glauben   wir   wieder    an   das    Revolutionäre   der Zärtlichkeit  und  der  Liebe.   An  ihr  sehen   wir,  dass  die  Demut   und  die Zärtlichkeit nicht  Tugenden der Schwachen, sondern der Starken sind,  die nicht    andere    schlecht   zu   behandeln   brauchen,   um   sich   wichtig    zu fühlen»[39].

In meinem Heimatland gibt es ein zum Nachdenken anregendes und kraftvolles Sprichwort, das  das  erhellen kann:  «Vereint seien  die  Brüder, denn  das  ist das  erste  Gesetz;  sie mögen  die Einheit  wahren zu jeder  Zeit, denn   wenn   sie  untereinander  kämpfen,  werden   sie  von   den Außenstehenden  verschlungen»[40].  Brüder    und   Schwestern,  haben   wir Sorge  füreinander! Achten  wir  auf  die  Versuchung durch  den  Vater  der Lüge  und  der  Trennung, den  Meister der  Spaltung, der  beim  Antreiben der   Suche   nach   einem   scheinbaren  Gut   oder   einer   Antwort  auf   eine bestimmte Situation letztendlich den  Leib  des  heiligen und  treuen  Volkes Gottes   zerstückelt! Begeben wir  uns  als  apostolische  Körper   gemeinsam auf  den  Weg  und  hören   wir  einander  unter   der  Führung  des  Heiligen Geistes  – auch  wenn  wir nicht  in gleicher Weise  denken  – aus  der  weisen Überzeugung heraus,  dass  «die  Kirche  im Gang  der  Jahrhunderte ständig der  Fülle  der  göttlichen Wahrheit   entgegenstrebt,  bis  an  ihr  sich  Gottes Worte erfüllen»[41].

11.                Die     synodale    Sichtweise    hebt     weder     Gegensätze    oder Verwirrungen auf, noch  werden  durch  sie Konflikte den Beschlüssen eines "guten   Konsenses",  die  den  Glauben  kompromittieren,  den  Ergebnissen von  Volkszählungen  oder  Erhebungen,  die  sich  zu  diesem   oder   jenem Thema  ergeben, untergeordnet. Das wäre sehr einschränkend. Mit dem Hintergrund  und   der  Zentralität  der  Evangelisierung  und   dem   Sensus Ecclesia e als bestimmende Elemente unserer kirchlichen DNA  beansprucht die Synodalität bewusst eine Art und Weise  des Kirche-Seins anzunehmen, bei  dem  «das  Ganze  mehr  ist  als  der  Teil,  und  es  ist  auch  mehr  als  ihre einfache Summe. Man darf sich also nicht  zu sehr in Fragen  verbeißen, die begrenzte  Sondersituationen  betreffen,  sondern  muss   immer   den  Blick weiten,   um  ein  größeres Gut  zu  erkennen, das  uns  allen  Nutzen   bringt. Das  darf  allerdings nicht  den  Charakter einer  Flucht  oder  einer Entwurzelung  haben.  Es  ist  notwendig, die  Wurzeln in  den  fruchtbaren Boden   zu   senken   und   in   die   Geschichte  des   eigenen  Ortes,   die   ein Geschenk Gottes  ist. Man  arbeitet im Kleinen, mit  dem,  was  in der  Nähe ist, jedoch  mit einer weiteren Perspektive»[42].

12.              Dies verlangt vom ganzen  Volk Gottes  und besonders von ihren Hirten  eine  Haltung der  Wachsamkeit und  der  Bekehrung, die  es ermöglicht,  das   Leben   und   die   Wirksamkeit  dieser   Wirklichkeiten  zu erhalten. Die  Wachsamkeit und  die  Bekehrung sind  Gaben,   die  nur  der Herr  uns  schenken kann.  Uns  muss  es genügen, durch  Gebet  und  Fasten um  seine  Gnade  zu  bitten.  Immer  hat  es mich  beeindruckt, wie  der  Herr während  seines   irdischen  Lebens,  insbesondere  in   den   Augenblicken großer  Entscheidungen, in  besonderer Weise  versucht wurde.  Gebet  und Fasten    hatten    eine   besondere  und   bestimmende  Bedeutung  für   sein gesamtes nachfolgendes  Handeln (vgl.  Mt  4,1-11). Auch  die  Synodalität kann  sich  dieser  Logik  nicht  entziehen und  muss  immer  von  der  Gnade der   Umkehr   begleitet   sein,   damit    unser    persönliches   und gemeinschaftliches  Handeln  sich  immer   mehr  der  Kenosis  Christi angleichen  und  sie  darstellen  kann   (vgl.   Phil   2,1-11).  Als  Leib   Christi sprechen, handeln und  antworten, bedeutet auch,  in  der  Art  und  Weise Christi  mit den gleichen Haltungen, mit derselben Umsicht und denselben Prioritäten  zu   sprechen  und   zu   handeln.  Dem   Beispiel  des   Meisters folgend,  der  «sich  selbst  entäußerte, und wie ein Sklave  wurde»  (Phil  2,7), befreit  uns die Gnade  der Bekehrung deshalb von falschen und sterilen Protagonismen. Sie befreit  uns von der Versuchung, in geschützten und bequemen Positionen zu  verharren, und  lädt  uns  ein,  an  die  Ränder   zu gehen,  um uns selbst  zu finden  und besser  auf den Herrn  zu hören. Diese   Haltung  der  Entäußerung  erlaubt   es  uns  auch,   die  kreative  und immer  reiche Kraft der Hoffnung zu erfahren, die aus der Armut  des Evangeliums geboren wurde,  zu  der  wir  berufen sind;  sie  macht  uns  frei zur  Evangelisierung und  zum  Zeugnis. So  erlauben wir  dem  Geist,  unser Leben  zu erfrischen und  zu erneuern, indem  er es von  Sklaverei, Trägheit und  nebensächlichem  Komfort  befreit,   die  uns  daran   hindern, hinauszugehen und,  vor  allem,  anzubeten. Denn  in  der  Anbetung erfüllt der Mensch seine höchste Pflicht  und sie erlaubt  ihm, einen Blick auf die kommende  Klarheit  zu  werfen,   die   uns   hilft,   die   neue   Schöpfung  zu verkosten[43].

Ohne   diese   Perspektive  laufen   wir   Gefahr,  von   uns   selbst  oder   vom Wunsch nach  Selbstrechtfertigung und  Selbsterhaltung  auszugehen,  was zu  Veränderungen  und  Regelungen  führt,   die  auf  halbem   Weg  stecken bleiben. Weit  davon  entfernt, die Probleme zu lösen,  endet  das darin,  dass wir  uns   in  einer   endlosen  Spirale   verfangen,  und   damit   die  schönste, befreiende und  verheißungsvolle Verkündigung erstickt   und  abtötet, die wir haben  und  die unserer Existenz einen  Sinn  gibt:  Jesus  Christus ist der Herr!  Wir  bedürfen des  Gebetes, der  Buße  und  der  Anbetung, die  es uns ermöglichen, mit dem Zöllner  zu sprechen: «Gott,  sei mir Sünder  gnädig!» (Lk  18,13),   nicht   in  heuchlerischer,  infantiler oder  kleinmütiger  Weise, sondern mit  dem  Mut,  die  Tür  zu öffnen  und  das  zu sehen,  was normalerweise  durch  Oberflächlichkeit,  durch  die  Kultur  des Wohlbefindens und des Augenscheins verdeckt bleibt[44].

Im Grunde genommen ermöglichen uns diese Geisteshaltungen – wahre geistliche  Heilmittel  (Gebet,   Buße   und   Anbetung)  –,  noch   einmal   zu erfahren,  dass  Christ-Sein  bedeutet,  sich  selig  und  gesegnet  und  somit Träger  der Glückseligkeit für die anderen zu wissen.  Christ-Sein bedeutet, der Kirche  der Seligpreisungen für die Seliggepriesenen von heute anzugehören: die  Armen, die  Hungrigen, die  Weinenden, die  Gehassten, die  Ausgeschlossenen und  die  Beschimpften (vgl.  Lk  6,20-23). Vergessen wir nicht:  «In den Seligpreisungen zeigt der Herr  uns den  Weg.  Wenn  wir den  Weg  der  Seligpreisungen  gehen,   können  wir  zum  wahrsten menschlichen  und  göttlichen  Glück   gelangen.  Die  Seligpreisungen  sind der  Spiegel, der  uns  mit  einem  Blick  darauf   kundtut, ob  wir  auf  einem richtigen Weg gehen:  Dieser  Spiegel lügt nicht»[45]!

13.       Liebe Brüder  und Schwestern, ich weiß um eure Standfestigkeit und mir  ist  bekannt, was  ihr  für  den  Namen  des  Herrn  durchgestanden und erduldet habt;  ich weiß  auch  um eurem  Wunsch und eurer  Verlangen, die erste  Liebe  in der  Kirche  mit  der  Kraft  des  Geistes  wiederzubeleben (vgl. Offb  2,1-5).   Dieser   Geist,  der  das  gebrochene Schilfrohr  nicht  zerbricht und  den  glimmenden  Docht   nicht   auslöscht  (vgl.  Jes  42,3),   nähre   und belebe   das  Gute,  das  euer  Volk  auszeichnet, und  lasse  es  erblühen!  Ich möchte euch  zur  Seite  stehen  und  euch  begleiten in der  Gewissheit, dass, wenn  der  Herr  uns  für  würdig  hält,  diese  Stunde  zu  leben,  Er  das  nicht getan  hat,  um  uns  angesichts der  Herausforderungen zu beschämen oder zu lähmen. Vielmehr will er, dass Sein Wort einmal mehr unser Herz herausfordert und  entzündet, wie Er es bei euren  Vätern  getan  hat, damit eure  Söhne   und  Töchter  Visionen  und  eure  Alten   wieder   prophetische Träume empfangen (vgl.  Joel  3,1).  Seine  Liebe  «erlaubt uns,  das Haupt  zu erheben  und  neu  zu  beginnen.  Fliehen  wir  nicht  vor  der  Auferstehung Jesu,  geben  wir  uns  niemals geschlagen, was  auch  immer  geschehen mag. Nichts  soll stärker  sein als sein Leben,  das uns vorantreibt!»[46].

Und so bitte ich Euch,  betet für mich! Vatikan, den  29. Juni  2019

 

______________________ 

[1] Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 11.  

[2] Vgl. Benedikt XVI., Begegnung mit den Deutschen Bischöfen in Köln, XX. Weltjugendtag (21. August 2005).

[3] Vgl. II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes, 58.

[4] Benedikt XVI.,  Begegnung mit  den  Deutschen Bischöfen  in  Köln,  XX.  Weltjugendtag (21. August 2005).

[5] Franziskus, Ad limina Besuch der Deutschen Bischöfe (20. November 2015).

[6] Vgl. Franziskus, Apostolische Konstitution Episcopalis communio (15. September 2018).

[7] Vgl. II. Vat. Konzil, Dogm. Konst. über die Kirche Lumen gentium, 23; Konzilsdekret über den Dienst der Bischöfe Christus Dominus, 3. Mit einem Zitat der Internationale Theologenkommission aus deren jüngstem Dokument Die Synodalität im Leben und in der Sendung der Kirche, sagte ich den italienischen Bischöfen: «Die Kollegialität ist deshalb die spezifische Form in der die kirchliche Synodalität zum Ausdruck kommt; sie verwirklicht sich durch den Dienst der Bischöfe auf der Ebene der communio unter den Teilkirchen einer Region und durch die communio unter allen Teilkirchen in der Weltkirche. Ein jeder authentischer Ausdruck der Synodalität verlangt wesensmäßig den kollegialen Dienst der Bischöfe», cf. Ansprache an die Italienische Bischofskonferenz (20. Mai 2019).  

[8] Vgl. II. Vat. Konzil, Dogmat. Konst. über die Kirche Lumen gentium, 8.

[9] Yves Congar, Vera e falsa riforma nella Chiesa, 259.

[10] Franziskus, Ansprache an die Deutsche Bischofkonferenz (20. November 2015).

[11] Schlussendlich ist es die Logik eines technokratischen Denkens, das sich allen Entscheidungen, Beziehungen und Nuancen unseres Lebens aufnötigt (vgl. Franziskus, Enzyklika Laudato si’, 106-114). Deshalb beeinflusst eine solche Logik auch unser Denken und Fühlen und unsere Art und Weise, Gott und den Nächsten zu lieben.

[12] Franziskus, Diözesanversammlung des Bistums Rom (9. Mai 2019).

[13] Vgl. Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 97: «Gott befreie uns von einer weltlichen Kirche unter spirituellen oder pastoralen Drapierungen! Diese erstickende Weltlichkeit erfährt Heilung, wenn man die reine Luft des Heiligen Geistes kostet, der uns davon befreit, um uns selbst zu kreisen, verborgen in einem religiösen Anschein über gottloser Leere. Lassen wir uns das Evangelium nicht nehmen!».

[14] Franziskus, Diözesanversammlung des Bistums Rom (9. Mai 2019).

[15] Franziskus, Apostolisches Schreiben Gaudete et exsultate, 52.  

[16] Franziskus, Nachtsynodales Apostolisches Schreiben Christus vivit, 121.

[17] Eine Haltung, die entweder einen Geist des uneingeschränkten Verlangens nach Erfolg entfacht im Falle günstigen Windes oder eine Opferhaltung hervorbringt, wenn „es gilt, gegen den Wind zu rudern“. Diese Denkweisen sind dem Geist des Evangeliums fremd und lassen eine elitäre Glaubenspraxis durchscheinen. Weder das eine, noch das andere; der Christ lebt aus der Danksagung.

[18] Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 26.

[19] Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 83.

[20] Vgl. Paul VI., Apostolisches Schreiben Evangelii nuntiandi, 14.

[21] Ebd, 15.  

[22] Vgl. Franziskus, Apostolisches Schreiben Gaudete et exsultate, 125.

[23] Ebd, 126.

[24] Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 74.  

[25] Ebd, 268.

[26] Vgl. II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes, 4; 11.

[27] Vgl. Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 28.

[28] Ebd, 109.

[29] Vgl. II. Vat. Konzil, Dogm. Konst. über die Kirche Lumen gentium, 23.

[30] Vgl. Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 46.  

[31] Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 226.

[32] Vgl. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Novo millennio ineunte, 40.

[33] Vgl. II. Vat. Konzil, Dogmat. Konst. über die Kirche Lumen gentium, 13.

[34] Gustav Mahler: „die Tradition ist die Gewähr für die Zukunft und nicht die Hüterin der

Asche“.

[35] Vgl. II. Vat. Konzil, Dogmat. Konst. über die Kirche Lumen gentium, 12

[36] Vgl. II. Vat. Konzil, Dogmat. Konst. über die Kirche Lumen gentium, 12.

[37] Vgl. Joseph Ratzinger, Der Gott Jesu Christi, München 1976, 104-105.

[38] Franziskus, Apostolisches Schreiben Gaudete et exsultate, 7

[39] Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 288.

[40] José Hernandez, Martín Fierro, secunda parte, Decimoséptima sextina.

[41] II. Vat. Konzil, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 8.

[42] Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 235.

[43] Vgl. Romano Guardini, Pequeña Suma Teológica, Madrid 1963, 27-33

[44] Vgl. J. M. Bergoglio, Sobre la acusación de sí, 2.

[45] Franziskus Ansprache vor dem 5. Nationalen Kongress der Kirche in Italien, Florenz,

10. November 2015.

[46] Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 3.


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